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9 1/2 Wochen: Sommerprojekt spielzeugfreier Kindergarten

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K. Fleischmann & R. Fischer

SOMMER! Endlich ist sie da, die lang ersehnte Jahreszeit! Die gute Laune, welche sich unter den Kollegen und den Kindern des Kindergartens einschlich, wurde von der Vorfreude auf die bevorstehende Zeit weiter angeregt. Urlaub, im Gänsehäufel schwimmen, auf dem Spielplatz Märchenschlösser bauen und noch viel mehr, was so ein Sommer im Kindergarten mit sich bringt. Was aber unternehmen, wenn Regentropfen den Tag trüben? Verzweifeln, langweilen, abwarten, bis der Tag vergeht? Nein! Für solche Tage haben wir uns ein besonderes Programm ausgedacht: Den SPIELZEUGFREIEN KINDERGARTEN.

Begeisterung

Natürlich wussten wir genau, was wir den Kindern mit diesem Projekt ermöglichen und bieten wollten.

  • Ausgleich zur reizüberfluteten Umwelt
  • Vertiefung der zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Förderung der Kreativität
  • Möglichkeit der Umsetzung eigener Ideen
  • Veränderung der gängigen Wertvorstellungen (weg vom Konsumdenken)

So begannen wir Mitte Juni gemeinsam mit den Kindern den Gruppenraum von gekauften Spielsachen zu befreien. Wir ersetzten sie durch so genanntes "WERTLOSES MATERIAL", welches aus Polstern, Decken, Klopapierrollen, Joghurtbechern etc bestand. Als dieser erste Schritt des Projektes getan war, flüchtete K. Fleischmann in den Urlaub und R. Fischer stellte sich allein der Herausforderung. Da nicht nur Kinder von der medienüberfluteten Umwelt beeinflusst sind, sondern auch Kindergärtnerinnen, wussten anfangs alle wenig bis gar nichts mit den wertlosen Materialien anzufangen.

Ernüchterung: R. Fischer berichtet

Wir stürzten uns gemeinsam in die Experimentierphase. Der Lärmpegel im Kindergarten stieg merklich, Joghurtbecher zerbrachen und krachten, Klopapierrollen wechselten auf fliegende Weise den Standort, Ritter kämpften mit Architektenrollen bewaffnet um Leben und Ehre, der Boden war mit Gummiringen und Korken übersät. Ich war kurz davor das Projekt abzubrechen. Es lief einfach nicht so wie ich es mir erwartet hatte. Ich war enttäuscht, verzweifelt und manchmal den Tränen nahe. Aber alles und jedes hat eine zweite Chance verdient, also auch unser Projekt. Tatsächlich waren nach einiger Zeit kreative Spielansätze zu erkennen. Die Konzentration der Kinder nahm zu und der Lärmpegel sank beträchtlich. In diesem doch noch etwas chaotischen Zustand übergab ich die Gruppe meiner Kollegin und "flüchtete" zufrieden, aber erschöpft in den Urlaub.

Verwirrung: K. Fleischmann berichtet

Als ich nach drei Wochen Urlaub erholt, ausgeglichen und voller Tatendrang den Kindergarten betrat, hätte ich mich am liebsten sofort wieder auf den Heimweg gemacht. Das Material lag über den Boden verstreut, dazwischen tummelten sich lachende, schreiende oder einfach laut vor sich hin singende Kinder. In der ehemaligen Kuschelecke türmten sich Polster, Matratzen und Decken und ich konnte nur vermuten, dass sich darunter wohl die restlichen Kinder verbargen. Aber da ich schon einmal da war, blieb ich dann doch und begann die Kinder zu beobachten. Dabei entpuppte sich das scheinbare Chaos als Stätte der Kreativität, Aktivität und Kommunikation.

Das Material war nicht einfach zufällig am Boden zerstreut, es bildete einen Parcours, den die Kinder bewältigen wollten. Ziel dabei war keine Filmdose, keinen Joghurtbecher und keinen Korken umzustossen. Ganz selbstverständlich spielten auch die jüngeren Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit und wurden dabei von den älteren mit viel Geduld und Fürsorge unterstützt. Der Berg aus Matratzen und Polstern war in Wirklichkeit eine Burg, die immer wieder umgestaltet und erweitert wurde.

Ab diesem Moment war ich fasziniert und begeistert. Das scheinbar wertlose Material hatte den Kindern unzählige Spielmöglichkeiten eröffnet, die nun mit viel Freude und Ausdauer genutzt wurden. Umso erstaunlicher, als ich eine Woche später feststellte, dass die Kinder kaum mehr Interesse an dem vorher so reizvollen Material zeigten. Trotzdem war von Langeweile keine Spur! Die Burg verwandelte sich in eine Matratzenlandschaft, in der sich manchmal die ganze Gruppe traf um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, zu diskutieren oder einfach um zu plaudern.

Ende gut, alles gut

Die Kinder begannen nun mit den Händen genauso wie mit den Füssen zu spielen, experimentierten mit ihren Gesichtern und begannen Rollenspiele. Bei den jüngeren Kindern war das "guten Tag" und "auf Wiedersehen" Spiel sehr beliebt. Sie verabschiedeten sich von mir, gingen eine Runde durch die Gruppe um mich dann wieder voller Freude zu begrüssen. Andere Kinder unternahmen mit ihrem "Autobus", welcher aus bis zu 10 Stühlen bestand einen Ausflug und erzählten mir anschliessend, was sie erlebt hatten.

Als R. Fischer aus ihrem Urlaub zurückkehrte, wurde sie von einer harmonischen, ausgeglichenen Gruppe begrüsst. Das neu erworbene Gemeinschaftsgefühl und der starke Zusammenhalt unter den Kindern sollte uns noch einige Überraschungen bieten.

Die fortgeschrittene Dauer des Projektes zeigte sich nicht nur an den veränderten gruppendynamischen Prozessen, sondern auch an der Abnützung des Materials. Einige Joghurtbecher hatten bereits Risse und mussten ersetzt werden. Architektenrollen waren flachgedrückt, Schachteln zerfielen in ihre Einzelteile und die Bezüge der Matratzen mussten ausgebessert werden.

Schlagartig wurde uns bewusst, wieviel Müll sich in unserer Gruppe angesammelt hatte und wir stellten uns die Frage nach der Weiterverwendung. Für die Kinder war sofort klar: Zum Wegwerfen ist dies alles zu schade!

So ließen wir sie einfach drauflos basteln und was entstand begeisterte und faszinierte und so sehr, dass wir beschlossen die Kunstwerke in einer Vernissage auszustellen. Alle waren begeistert.

Es war zum Beispiel aus einem Margarinebecher eine Theaterbühne entstanden auf der Korkenschauspieler ein Stück probten. Aus Sektkorken, Watte und Stoffresten wurden die Familien der Kinder dargestellt. Ein grün bemalter Eierkarton wurde zum Schauplatz eines Kampfes gegen einen unbekannten Feind. Korkmännlein mit Schraubverschlusshelmen tummelten sich da und wurden von ihrem 5-jährigen Schöpfer "Kanonenmännchen" getauft. Die Kunstwerke zeigten ganz konkret, was wir in den letzten Wochen erlebt haben: die Phantasie und Kreativität der Kinder ist unerschöpflich solange die Kinder ausreichend Möglichkeiten bekommen sie auszuleben.

Den Abschluss des Projektes bildete ein Elternabend, an dem wir gemeinsam mit den Eltern reflektierten, welche Wirkungen unser Experiment auf die Kinder hatte. Wir bekamen ausschliesslich positives Feedback und viele Anregungen wurden teilweise auch zu Hause umgesetzt. Auch die Eltern hatten den Wunsch, das Spiel mit wertlosem Material auszuprobieren und sich kreativ zu betätigen. Dabei entstanden noch etliche Objekte, mit denen wir unsere Ausstellung erweiterten.

Inzwischen ist im Kindergarten der "Alltag" wieder eingekehrt und damit auch "herkömmliches Spielzeug" wieder fixer Bestandteil des Gruppenraumes. Nach außen hin hat sich wenig geändert, wir bemerken aber immer wieder, dass es einige Unterschiede zu früher gibt.

Einerseits behandeln die Kinder das Spielgut mit mehr Sorgfalt und Wertschätzung. Andererseits wissen wir es jetzt:

WIR KÖNNEN AUCH OHNE SPIELZEUG SPIELEN

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